Klimaschutzpolitik neu denken:
 Lösungsansätze aus Sicht eines Ökonomen
Autor: Dr. Björn Benken 06.12.2018
www.klimaschutzpolitik.de

     

Zusammenfassung:
In der ökonomischen Theorie gilt der Zertifikatehandel als Mittel der Wahl, um bestimmte vorgegebene Ziele am effizientesten zu erreichen. Das hilft der Gesellschaft wie auch der Wirtschaft und der Umwelt gleichermaßen: Wenn Klimaschutz zu den geringstmöglichen Kosten realisiert werden kann, heißt das im Umkehrschluss, dass eine gegebene Summe an Investitionen stets zu der maximal möglichen Menge an Klimaschutz führt.

Aber wie werden die Ziele, die wir mit diesem Instrument erreichen wollen, konkret bestimmt? Der fatale Konstruktionsfehler des bisherigen europäischen Emmissionshandelssystems (EU-ETS) liegt darin, dass es die Festlegung der Mengenziele als rein politische Aufgabe sieht. Tatsächlich jedoch müssten Politik und Wissenschaft sich "nur" auf die Kosten des menschengemachten Teils des Klimawandels einigen und der Handelsmechanismus würde dann automatisch jenes Ausmaß an Schadstoffreduktion herbeiführen, welches wir aus ökönomischen Gründen "erreichen wollen müssen". Damit könnte sich der Zertifikatehandel seines bisherigen planwirtschaftlichen Charakters entledigen und würde zu einem wirklich marktwirtschaftlichen Instrument werden.


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Das Schicksal unseres Planeten hängt entscheidend vom Klima ab. Zumindest bezüglich dieser Aussage dürfte Einigkeit herrschen, und zwar selbst bei denjenigen, die (noch) keinen tiefgreifenden Klimawandel zu erkennen meinen, wie auch bei denjenigen, die zwar von einem deutlich spürbaren Klimawandel ausgehen, diesen aber nicht vorrangig als menschengemacht ansehen.


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Da also das Klima erstens ein prinzipiell schützenswertes Gut ist und zweitens auch ein sogenanntes öffentliches Gut, ergibt sich hieraus die Notwendigkeit einer - je nach Standpunkt mehr oder weniger ambitioniert anzugehenden - Klimaschutz­politik. Typisch für öffentliche Güter ist, dass im Zweifel niemand an ihnen Eigentumsrechte reklamieren und durchsetzen kann und dass niemand von ihrem Konsum ausgeschlossen werden kann. Dies macht öffentliche Güter anfällig gegenüber Ausbeutung. Auf das vorliegende Thema übertragen heißt dies, dass Marktteilnehmer normalerweise keine Anreize haben, ihre eigenen Interessen gegenüber dem Schutz des Klimas zurückzustellen. (So behauptet es jedenfalls die ökonomische Theorie. Ob es Wirtschaftssubjekte gibt, die nicht im Sinne eines homo oeconomicus agieren, sondern auch soziale und moralische Aspekte in ihre Entscheidungen mit einbeziehen, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben - denn solange zumindest für einen Teil der Menschen angenommen werden kann, dass ihnen egoistische Ziele wichtiger sind als Gemeinschafts-Interessen, solange bleibt das Problem, welches in den folgenden Absätzen skizziert werden soll, bestehen.)


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Der Ökonom Ronald Coase behauptete 1960 in einem vielbeachteten Artikel, dass öffentliche Güter dann effizient genutzt werden könnten, wenn private Eigentumsrechte an diesen Gütern geschaffen würden. Die von ihm hierfür postulierten Bedingungen wie z.B. vollständige Information und das Fehlen von Transaktionskosten sind jedoch in der Praxis so gut wie nie erfüllt. Auch wird die ökonomische Sichtweise, dass es letztlich egal sei, welcher Seite die Eigentumsrechte zugesprochen werden, aus normativer Sicht als unangemessen empfunden. Das von Coase entwickelte Modell gilt dennoch als wichtiger Wegbereiter des Emissionshandelssystem der Europäischen Union (EU-ETS). Auch wenn man dort keine Eigentumsrechte an der Luft erwirbt, so doch immerhin garantierte Nutzungsrechte. Grundsätzlich unterscheidet sich diese Lösung nicht von einem ordnungspolitischen Rahmen, in dem alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist - doch bei letzterem kann der Staat zumindest schneller auf unerwünschtes und schädliches Verhalten reagieren und dieses untersagen.


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Eine andere Lösung für das Problem der öffentlichen Güter stammt von Arthur Cecil Pigou. Seiner Ansicht nach muss der Staat dort, wo der Markt nicht in der Lage ist, die gesamtgesellschaftlich optimalen Ergebnisse bereitzustellen, eine Steuer bzw. Abgabe erheben, die genau dieses Optimum trifft. Wenn Unternehmen z.B. einen bestimmten Schadstoff ausstoßen, welcher an anderer Stelle zu Schäden führt, so ist das optimale Ausstoßvolumen dort erreicht, wo für die Geschädigten der zusätzliche Nutzen einer jeden nicht-ausgestoßenen Schadstoff­einheit genau so hoch ist wie für die Schädiger die zusätzlichen Kosten pro eingesparter Schadstoffeinheit. Eine Lenkungssteuer auf Emissionen, deren Steuersatz so angesetzt wird, dass alle Unternehmen einen Anreiz haben, ihre Emissionen auf die optimale Menge (im oben definierten Sinne) zurückzufahren, wird Pigou-Steuer genannt. Sie hat den Effekt, dass die Schädiger zwar grundsätzlich weiterproduzieren dürfen, dass sie jedoch mittels der gezahlten Steuer die Gruppe der Geschädigten für deren erlittene Schäden kompensieren. Für Nicht-Ökonomen mag das auf den ersten Blick eine allzu nüchterne Aufrechnung sein, bei der viele ethische Fragen unberücksichtigt bleiben. Ökonomen hingegen sehen es als einen ethischen Minimalkonsens an, wenn diejenigen, die für die Entstehung eines Problems verantwortlich sind, auch dazu verpflichtet werden, für die vollständige Beseitigung seiner negativen Folgen aufzukommen.


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Allerdings ist auch Pigous Ansatz nicht ohne Fallstricke. Denn der Staat bräuchte ein detailliertes Wissen über die sogenannte Grenznutzenkurve der Gesellschaft wie auch über die Grenzkostenkurven der emittierenden Unternehmen, um die optimalen Mengen und Steuersätze zu bestimmen (zur näheren Erläuterung siehe Abschnitt 14). In der Praxis ist dieses Wissen meist nur höchst unvollkommen vorhanden. Nicht nur, dass dem Staat naturgemäß der Einblick in die betriebswirt­schaftlichen Kalkulationen fehlt; auch sind es die Kosten des Klimawandels selbst, deren Ermittlung alles andere als trivial ist. Zunächst einmal müssten gesicherte Kenntnisse darüber vorliegen, welche Ursachen in welcher Intensität bzw. mit welcher Wahrschein­lichkeit zu welchen Folgen führen. Die bisherigen Forschungsergebnisse klaffen hier sehr weit auseinander, teilweise um den Faktor 100. Dies verwundert nicht, weil Klimaforschung eine hochkomplexe Materie ist, deren Vorhersagen zwangsläufig mit einer hohen Unsicherheit behaftet sind. Wenn beispielsweise ein Naturwissenschaftler behauptet, der Schaden einer zusätzlichen Tonne CO2 für die Menschheit würde sich auf 50 Dollar belaufen, während sein Kollege von einem Schätzwert von 1.000 Dollar pro Tonne ausgeht, dann sind dies für einen Ökonomen keine brauchbaren Zahlen.


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Wünschenswert wäre also zunächst einmal, dass mit aller Kraft daran gearbeitet wird, eine zumindest grobe Einigung in den Wissenschaften darüber zu erzielen,
  • welche Klimaveränderungen schon jetzt als gesichert anzunehmen sind und welche langfristig noch zu erwarten sind,
  • welche konkreten Folgen diese Klimaveränderungen haben,
  • wie hoch ihre Netto-Schäden zu beziffern sind und
  • welchen Anteil menschliche Aktivitäten hieran haben bzw.
  • zu welchen Anteilen die Einzelfaktoren wie fossile Brennstoffe, Abholzung, Viehzucht etc. in die Rechnung eingehen.

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Es sollte eine ständige, ggf. interdisziplinär besetzte Kommission eingerichtet werden, die alle vorhandenen Studien zu den Kosten des Klimawandels auswertet, dabei die methodisch fragwürdigen aussortiert und die restlichen so vergleichbar wie möglich macht. Aus der Gruppe der vertrauenswürdigen Studien könnten Median-Mittelwerte ermittelt werden, die eine Art wissenschaftlichen Konsens dar­stellen. Eine solche Kommission sollte man sich weder vorstellen als ein nur weiteres regierungsberatendes Gremium wie WBGU oder SRU noch als einen von privaten Geldgebern finanzierten Think-Tank oder eine NGO (wie das GCA) oder eine Initiative wie Klimafakten.de. Vielmehr muss es eine Institution sein, die von Staaten oder von den Vereinten Nationen mit klarer demokratischer Legitimität und institutioneller Autorität ausgestattet ist und die entscheiden darf bzw. entscheiden muss, welche wissenschaftlichen Ergebnisse bei den klimapolitischen Entscheidungen der Regierungen zu berücksichtigen sind. Der Auftrag der Kommission sollte eng umrissen sein und sich ausschließlich darauf beschränken, wissenschaftlich belastbare Zahlen zu den voraussichtlichen Kosten (und den evtl. gegenzurech­nenden Gewinnen) des Klimawandels zu liefern. Hierbei wird man sich wohl vorrangig auf materielle und somit messbare Effekte konzentrieren müssen. Zwar wäre auch eine Erfassung immaterieller Auswirkungen wünschenswert; doch lassen sich diese sehr viel schwerer erfassen und interpersonelle Vergleiche derartiger Kosten und Nutzen sind gar so gut wie unmöglich.


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Erst wenn die zu erwartenden Schäden von Klimaveränderungen in einem bestimmten, wenngleich natürlich noch immer grob geschätzten Zahlenwert abgebildet werden können (oder im Idealfall in mehreren Zahlenwerten, die auch die unterschiedliche Verteilung der Belastungen wiedergeben), ließe sich die Frage, wie ambitioniert die Klimaschutzpolitik sein sollte, verantwortungsbewusst beantworten. Gemessen am Status quo wäre die Aufstellung von Klimaschutz-Zielen dann weniger willkürlich und weniger auf bloße politische Aushandlungsprozesse angewiesen. Dennoch sollte man sich immer vor Augen führen, wie realitätsfern ein wissenschaftlicher Konsens auf diesem Gebiete nach jetzigem Stand der Dinge ist. Vielmehr sollte man im Zweifel davon ausgehen, dass die Festlegung von Klimaschutz­zielen und -maßnahmen derzeit noch eine hauptsächlich politische Entscheidung sein wird. Damit ist nicht eine interessen­geleitete Entscheidung gemeint (auch wenn man die Eigeninteressen der Akteure und starke Lobbyinteressen nicht ganz wird ausschließen können), sondern vor allem: eine Entscheidung unter großem öffentlichen Druck bei gleichzeitig großer Unsicherheit hinsichtlich der Faktenlage.


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Aber zurück zur ökonomischen Theorie. Diese hat vor allem zwei umweltpolitische Instrumente hervorgebracht, die das Prädikat "marktwirtschaftlich" für sich beanspruchen (ob zu Recht, soll weiter unten diskutiert werden). Dies ist zum einen der Emissionshandel als sogenannte Mengenlösung und zum anderen die Pigousteuer, also eine Preissteuerung. Der Zertifikatehandel geht davon aus, dass die maximal zulässige Menge an Schadstoffen bekannt sei und der konkrete Weg dorthin mittels Preissignalen, die sich aus der jeweiligen Mengenvorgabe (dem sogenannten "Cap") ergeben, gesteuert wird. Dies ist eine wahrhaft bezwingende Idee, denn anders als z.B. bei einer Einzelfallsteuerung mittels Verboten oder Emissionshöchstgrenzen bräuchte es auf staatlicher Seite keinerlei Wissen darüber, in welchem Ausmaß technologischer Fortschritt möglich ist oder wie die konjunkturellen Aussichten sind oder wie sich das Umwelt­bewusst­sein der Bürger bzw. der Energieverbrauch entwickelt. Denn alle diese Entwicklungen würden sich automatisch im Preis der Zertifikate niederschlagen und unter allen möglichen Umweltbedingungen dafür sorgen, dass Produktion und Schadstoffemission sich stets optimal unter Beachtung der vorgegebenen Höchstgrenzen bewegen.


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Das größte Informationsproblem beim Zertifikatehandel besteht allerdings darin, dass unklar ist, wie sich in der Praxis die Mengenvorgaben in Preise "übersetzen". Das Vorgehen in der Black Box mag - gemessen an den Außenbedingungen. d.h. den herrschenden politischen Vorgaben - immer optimal sein; aber sind auch die von außen auf das System wirkenden Einflüsse optimal? Hier können tatsächlich erhebliche Dysfunktionalitäten bestehen. Sind nämlich die Vorgaben zu ambitioniert, besteht die Gefahr, dass die finanziellen Belastungen für die Wirtschaft so hoch werden, dass sie kollabiert. Wählt man allerdings aus lauter Angst, man könne die Wirtschaft zu sehr strangulieren, zu lasche Reduktionsziele, so wächst die Gefahr, dass das ökologische Gleichgewicht irgendwann kollabiert. Für die Pigousteuer stellt sich ein ähnliches, spiegelbildliches Problem: Auch hier kann man nicht im vorhinein wissen, welche Preissignale zu einer wie hohen Schadstoffreduzierung führen werden. Deshalb ist es müßig, darüber zu diskutieren, ob nun eine alleinige Mengensteuerung oder eine alleinige Preissteuerung das bessere ökonomische Instrument sei... denn beide weisen einen gravierenden Mangel auf: die letztlich unzureichende Interaktion zwischen Mengen- und Preisgrößen.


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Jede Marktwirtschaft beruht in ihrem Kern auf Regelkreisen. Der bekannteste ist der Preismechanismus: Ein Ansteigen der Preise senkt die Nachfrage, während eine sinkende Nachfrage tendenziell preisdämpfend wirkt. Auf der anderen Seite führen sinkende Preise zu sinkenden Angebotsmengen, was in der Folge wiederum die Preise ansteigen lässt. Die richtigen Mengen und die richtigen Preise werden so über ein ständiges Trial-and-Error-Verfahren gefunden und wieder verworfen und wieder neu gefunden, in einem sich ständig dynamisch verändernden Umfeld. "Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" hat Friedrich August von Hayek diesen Prozess treffend beschrieben.


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Wenn jedoch entweder die Mengen (bei der Zertifikatelösung) oder die Preise (bei der Abgabenlösung) extern vorgegeben werden, wird genau an dieser Stelle der marktwirtschaftliche Rahmen verlassen. Zwar wird im Inneren weiterhin der Preismechanismus gewahrt, denn die Wirtschaftssubjekte reagieren ja auf die externen Einflüsse ihrerseits durch Mengen- und Preisanpassungen. Doch wenn diese naturgemäß gegebenen Interaktionen der Marktteilnehmer und die daraus resultierende Ergebnisse nicht wiederum auch Rückwirkungen auf die gesetzten Mengen bzw. Preise haben, ist der Regelkreis an dieser Stelle unterbrochen, und das angeblich "marktwirtschaftliche" Instrument befindet sich nun außerhalb der marktwirtschaftlichen Arena - in der Funktion eines "externen Störers". Dabei ist die Ähnlichkeit mit einem planwirtschaft­lichen Szenario frappierend. So wie man in planwirtschaftlich organisierten Gesellschaften oft jahrelang kein Toilettenpapier bekam, weil der Fünfjahresplan bedauerlicherweise von falschen Konsumannahmen ausgegangen war, so fielen in der dritten EU-ETS-Handelsperiode die angestrebten ökologischen Entlastungen ins Wasser, weil die im Jahre 2008 tagenden Politiker und Wissenschaftler leider falsche Voraussagen darüber getroffen hatten, wie sich Technologie und Konjunktur bis zum Jahr 2020 entwickeln würden.


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Der größte Unterschied eines marktwirtschaftlichen Systems gegenüber einem planwirtschaftlichen System ist nicht, dass nur bei ersterem die Mengen auf die Preise reagieren und umgekehrt - das tun sie in einer Planwirtschaft am Ende auch. Der Hauptunterschied ist der, dass sie es in einer Marktwirtschaft sehr viel schneller und sehr viel präziser tun. Auch die zentralen Steuerungsbehörden in einer Planwirt­schaft versuchen ja, aufgrund der Entwicklung wirtschaftlicher Größen die optimalen Mengen und Preise zu bestimmen. Dies fällt ihnen jedoch viel schwerer und dauert sehr viel länger, als wenn diese Aufgabe autonom agierende, profitmaximierende Unternehmen übernehmen. Die Güte eines marktwirtschaftlichen Systems bemisst sich danach, wie schnell und ob überhaupt (zumindest annäherungs­weise) der Zustand der Markträumung erreicht wird. Damit ist eine Situation gemeint, in der die angebotenen Mengen den nachgefragten Mengen entsprechen. Für Ökonomen ist dieser Gleichgewichtspunkt das magische Ziel allen Handelns.


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Wo aber liegt der Gleichgewichtspunkt für optimale Schadstoffobergrenzen? Hier kommen wir auf die in Absatz 4 zitierte Aussage zurück, dass das optimale Ausstoßvolumen dort erreicht ist, wo für die Geschädigten der zusätzliche (="Grenz"-)Nutzen jeder nicht-ausgestoßenen Schadstoffeinheit genau so hoch ist wie für die Schädiger die zusätzlichen (="Grenz"-)Kosten jeder eingesparten Schadstoffeinheit. Wenn man diese Nutzen bzw. Kosten in Abhängigkeit von der jeweiligen Höhe der Schadstoffreduzierung in ein Schaubild einträgt, erhält man die folgende Grenznutzenkurve bzw. Grenzkostenkurve:

Abb. 1


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Wir wollen der Einfachheit halber annehmen, dass dem Staat die gesellschaftliche Grenznutzenkurve (also die grüne Linie) bekannt ist. In Wirklichkeit ist dies eine kühne Annahme (vgl. Absatz 5). Doch auch eine unsichere wissenschaftliche Erkenntnislage kann keine Entschuldigung dafür sein, die Hände in den Schoss zu legen, wo doch dringende Entscheidungen zu treffen sind und wo auch das mutwilllige Verzögern von Entscheidungen eine Entscheidung darstellen würde. Vielmehr muss es den Repräsentanten des Staates zugemutet werden, den Verlauf der Grenznutzenkurve dann eben nach bestem Wissen zu schätzen. Jedenfalls ist diese Kurve für den Staat immer noch einfacher zu ermitteln als die Kurve der aggregierten umweltpolitischen Kosten, die im Unternehmenssektor anfallen (in der obigen Grafik als schwarz-gestrichelte Linie dargestellt).


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Die oben markierte Menge X1 sei jene Mengenvorgabe, die der Staat zunächst als Steuerungsgröße für den Zertifikatemarkt ausprobieren möchte, weil er in Unkenntnis des wahren Verlaufs der Grenzkostenkurve der Unternehmen dort den Schnittpunkt zur Grenznutzenkurve vermutet. Wie man sieht, ergibt sich bei der Mengenvorgabe X1 jedoch ein zu niedriger Zertifikatepreis, der nur einen Bruchteil der gesellschaftlichen Kosten repräsentiert. Da alle Zertifikatepreise normalerweise auf der Grenzkostenkurve der Unternehmen liegen müssen (von den Fällen, wo die Preisentwicklung durch Spekulation beeinflusst wird, wollen wir an dieser Stelle einmal absehen), bekommt der Staat die Möglichkeit, seine vorläufige Vorstellung vom Verlauf der aggregierten betrieblichen Grenzkostenkurve zu revidieren und an die neuesten Erkenntnisse anzupassen. Hierfür müsste er die Mengenvorgabe in Richtung auf X2 verschärfen. Sollten allerdings die Experten die Kostenkurve fälschlicherweise als zu linear angenommen und nicht berücksichtigt haben, dass sie schon früher nach oben abknickt, so würde man feststellen, dass sich zum nächsten Stichtag der Zertifikatepreis oberhalb der gesellschaftlichen Grenznutzen befände, so dass der Staat die Mengenvorgaben wieder ein wenig lockern müsste. Umgekehrt ist auch denkbar, dass sich die Lage der Grenzkostenkurve dank neuer technologischer Innovationen auf ganzer Länge nach unten verschiebt. Das könnte zu einem erneut zu niedrigen Zertifikate­preis führen, so dass der Staat mit einer weiteren Verschärfung der geforderten Schadstoffreduzierungen reagieren müsste, um das Gesamtsystem wieder in Richtung auf den Gleichgewichtspunkt zu lenken.


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Man sieht also, dass es auch im Zertifikatemodell niemals eine autonome Mengensetzung geben sollte, sondern dass es zwingend einer Rückkopplung von den sich am Markt bildenden Zertifikatepreisen auf die Mengenvorgaben bedarf. Fehlt diese Rückkopplung, verdient nur der isolierte Preismechanismus für das Hilfsgut "Zertifikate" die Bezeichnung "marktwirtschaftlich", während der übergeordnete und damit wichtigere Teil des Systems einen planwirtschaftlichen Charakter hat. Nun ist zwar die Suche nach der optimalen Menge der Schadstoff­vermeidung kein Markt im eigentlichen Sinne und kann es auch gar nicht sein, weil hier definitionsgemäß ein Marktversagen vorliegt, welches durch staatliche Eingriffe beseitigt werden muss. Das oben beschriebene Gleichgewichtsmodell deutet aber an, dass wir es hier mit einem "Quasi-Markt" zu tun haben, wo zwar nicht die unsichtbare Hand des Marktes, wohl aber die berufene Hand des Staates - gemäß Pigous Theorie der Internalisierung externer Effekte - ein kollektives Optimum anstrebt. Unter der Annahme einer bekannten und sich im Zeitablauf nicht verändernden Grenznutzenkurve der Emissionsminderung ließe sich sogar eine vollständig automatisierte Rück­kopplung von den Börsen-Ergebnissen auf die Mengensteuerung installieren, weil sich aus dem beobachteten Verhältnis des Ist-Zertifikatepreises zum Soll-Zertifikatepreis (der sich auf der Grenznutzenkurve befindet) herleiten lässt, ob sich das Cap nach oben oder nach unten anpassen muss. Dabei ist es auch keinesfalls erforderlich, in einem großen Schritt auf den neuberechneten Gleichgewichtswert zu springen; vielmehr kann im Sinne einer geglätteten Entwicklung ein Algorithmus eingesetzt werden, der eine langsamere Bewegung hin zu dem vermuteten neuen Gleichgewicht vollzieht. Dies wird sehr im Sinne der Unternehmen sein, die für ihre langfristig wirkenden Investitionen Vorhersehbarkeit und Planungssicherheit benötigen.


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Mittlerweile wird zwar von allen Seiten zugegeben, dass der EU-Emissionshandel in den 2010er Jahren faktisch versagt hat, weil die Vorgaben für die Schadstoffreduzierung weit hinter dem zurückblieben, was die Wirtschaft ohnehin geleistet hat (sei es aus betriebs­wirtschaftlicher Weitsicht, sei es dank technologischer Fortschritte oder sei es notgedrungen aufgrund einer unerwartet schlechten konjunkturellen Entwicklung). Folgerichtig dümpelten die Zertifikatepreise jahrelang bei weniger als zehn Euro pro Tonne und wurden vermutlich vor allem durch Spekulation am Leben gehalten. Mittlerweile zeigen die Einführung der Marktstabilitätsreserve und die Aussichten auf schärfere Grenzwerte in Handelsperiode IV erste positive Auswirkungen auf den Zertifikatepreis, so dass sich eine vage Hoffnung breit macht, das Zertifikatesystem könnte doch noch gerettet werden. Der eigentliche Kern des Problems wird dabei aber nicht angegangen, noch wurde er bisher überhaupt richtig erkannt. (Mir ist tatsächlich - trotz intensiver Recherche - kein wissenschaftlicher Beitrag und keine politische Forderung bekannt, die eine Kombination von Mengensteuerung und Preissteuerung im obigen Sinne vorschlagen. Sollten Sie eine solche Position kennen, melden Sie mir diese bitte!). Stattdessen werden notdürftige Reparaturen wie z.B. Mindest­preise für CO2-Zertifikate diskutiert. Außerdem wurde die teilweise Vernichtung von Angebots­über­schüssen auf dem Zertifikatmarkt mittels der sogenannten Marktstabilitätsreserve beschlossen. Dies sind aber nur scheinbar adäquate Lösungen, welche das Problem in Wirklichkeit weiter verstärken. Denn je mehr der zentrale Marktmechanismus verwässert wird, desto weniger sprechen dessen Preise eine marktwirtschaftliche Wahrheit, sprich: desto unzuverlässiger werden sie als Knappheitsindikatoren. Und: Wer den ökologischen Umbau der Wirtschaft mit stetig ansteigenden Mindest-Zertifikatepreisen steuern möchte, muss sich fragen lassen, warum er dann denn nicht gleich auf den ganzen teuren Börsenmechanismus verzichtet zugunsten einer dynamisierten Steuer/Abgabe, die dasselbe leisten würde.


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Auch ist es ein weitverbreitetes Missverständnis, zu meinen, die extern gesetzten Mengenvorgaben wären quasi fix, weil sie aus einer ökologischen Notwendigkeit resultieren würden. Implizit wird hier eine senkrecht verlaufende Grenznutzenkurve angenommen. Die ist jedoch in höchstem Maße unwahrscheinlich. Man muss in der Realität lange suchen, um Beispiele für eine senkrecht verlaufende Grenznutzenkurve zu finden. In dem folgenden Schaubild 2 ist ein solcher Fall dargestellt. Es sei angenommen, eine 5000-Meter-Läuferin möchte an den Olympischen Spielen teilnehmen. Der optimale Trainingsumfang ist dann erreicht, wenn die vom nationalen Sportverband geforderte Olympianorm gerade so erfüllt wird, aber andererseits auch nicht übererfüllt wird, weil die Athletin ja sonst unnötig Kräfte vergeudet hätte.
Abb. 2


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Wer nun allerdings meint, auch die Vorgaben des Kyoto-Protokolls oder die Ziele des Paris-Abkommens müssten letztlich wie eine Olympianorm erfüllt werden, hat das Wesen der Umweltpolitik nicht verstanden. Denn weder wären umweltpolitische Anstrengungen wertlos, wenn sie ein ambitioniertes Ziel (knapp) verfehlen, noch dürfte man die Anstrengungen einstellen, wenn die einmal ausgehandelte Zielvorgabe tatsächlich erreicht ist. Vielmehr gilt auch in der Umweltpolitik die Regel: Je mehr (Entlastung), desto besser. Je umweltfreundlicher die Welt ihren Bedarf an Rohstoffen, Waren und Dienstleistungen decken kann, desto besser ist dies für das ökologische Gleichgewicht. Eine vertikale gesellschaftliche Grenznutzenkurve ist somit durch diese Überlegungen ausgeschlossen. (Eher noch könnte die Kurve eine horizontale Form aufweisen, was bedeuten würde, dass jede zusätzlich eingesparte Tonne CO2 für die Gesellschaft den gleichen Wert hätte.) Mit der Annahme einer nicht-vertikalen Grenznutzenkurve befinden wir uns jedenfalls wieder im Szenario der Abb. 1. Und weil davon auszugehen ist, dass sowohl die Grenznutzenkurve der Gesellschaft wie auch die Kurve der betrieblichen Grenznutzen sich im Zeitablauf immer wieder mal verschieben (sei es aufgrund neuerer Forschungsergebnisse oder aufgrund neu entwickelter Technologien), verschiebt sich auch der Schnittpunkt zwischen beiden Kurven ständig. Es muss also ebenso regelmäßig nachjustiert werden, um nicht zu sehr vom Gleichgewichtspunkt abzukommen. Das heißt: Alle Mengenziele sind allenfalls vorübergehender Natur und müssen sich aus dem System heraus ergeben! Sie können (abgesehen vom ersten Mengenziel beim Start des Systems) niemals extern vorgegeben sein.


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Die oft gehörte Aussage, dass marktwirtschaftliche Instrumente der Umweltpolitik entweder nur als Preislösung oder nur als Mengenlösung konzipiert sein können, ist - wie in den vorausgegangenen Abschnitten gezeigt werden konnte - nicht haltbar. Nicht nur ist es möglich, Preislösungen mit Mengenlösungen zu kombinieren, indem man Preisgrößen und Mengengrößen vollständig miteinander interagieren lässt - es ist vielmehr auch unabdingbar, sofern man diese Instrumente mit Fug und Recht weiterhin als "marktwirtschaftlich" bezeichnen will. Sobald Rückkopplungen zwischen beiden Größen zugelassen werden, verschwinden die Unterschiede zwischen angeblichen Mengenlösungen und Preislösungen. Im Zertifikatehandel sähe die naheliegende Lösung so aus, dass die aktuellen Zertifikatepreise zu einer regelmäßigen, automatisierten Anpassung der Mengenobergrenzen führen. Dabei würde die nötige Korrektur um so größer ausfallen, je mehr der CO2-Zertifikatepreis von den gesellschaftlichen Grenznutzen der Schadstoffreduzierung entfernt ist. Eine solche Korrektur findet selbstverständlich nicht nur dann statt, wenn der Zertifikatepreis zu niedrig ist; auch wenn er zu hoch ist, greift der automatische Korrektur­mechanismus. (Dies ist auch sinnvoll so - denn nur wenn die Entscheidungsträger wissen, dass schwere ökonomische Verwerfungen als Folge einer Übersteuerung nicht möglich sind, werden sie zu ambitionierten umweltpolitischen Schritten bereit sein). Ein Eingreifen von außen im Sinne eines Nachjustierens wäre nur dann noch nötig und angemessen, wenn man davon ausgehen müsste, dass sich die Lage der gesellschaftlichen Grenznutzenkurve zwischenzeitlich verändert hätte. Die Anstrengung, sich ganz zu Beginn auf einen bestimmten Verlauf der Grenznutzenkurve politisch einigen zu müssen, wäre zwar erheblich - doch nachdem dies vollbracht ist, läuft die Klimaschutzpolitik quasi von allein auf das festgelegte ökologische Ziel zu.


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"Aber ist es für eine solche Kursänderung nicht schon viel zu spät?", werden manche fragen, "ist es nicht besser, wir retten jetzt mit den erstbesten, wenn auch vermutlich ineffizienten Instrumenten das Klima, statt darauf zu warten, dass wir irgendwann das ideale Instrument zur Hand haben werden?". - Diese Einstellung ist sicherlich nicht ganz verkehrt. Und dennoch ist es keineswegs bloß von akademischem Wert, sich einmal konkret vor Augen zu führen, wie man es von Anfang an hätte besser machen können, besser hätte machen müssen. Zumal die Geschichte noch nicht zu Ende ist... vielmehr haben die Maßnahmen zur Lösung des Klimaproblems gerade erst begonnen. Das EU-ETS wird es auch nach 2030 noch geben, nach der vierten Handelsperiode wird eine fünfte Handelsperiode kommen, und vielleicht wird die europäische Zertifikatebörse ja eines Tages sogar Teil eines großen, weltumspannenden Zertifikatesystems sein. Der Weg dahin wird lang sein, aber um so wichtiger ist es, das vorhandene Design dieses Instruments nicht als gegeben hinzunehmen, sondern es immer wieder zu hinterfragen und weiter zu verbessern.




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Klimaschutzpolitik neu denken!

  Dr. Björn Benken
  (Dipl.-Ökonom)